Die stetig wachsende Komplexität in Wirtschaftssystemen und Unternehmen stellt Manager vor Herausforderungen. Alte Strategien und Techniken müssen überdacht und geeignete, gegebenenfalls neue Herangehensweisen  gefunden werden.

  • Wie lassen sich komplexe Problemlagen erfassen und handhaben?
  • Wie können Muster erkannt werden, die es ermöglichen, Komplexität zu reduzieren, ohne unzulässige Vereinfachungen zu treffen?
  • Wie lässt sich Komplexität managen, um Teilbereiche zu identifizieren, in denen konkrete Lösungen realisierbar sind, ohne jedoch den Blick für das Ganze zu verlieren?

Der im Juni 2015 verstorbene Psychologe Peter Kruse, Professor für Psychologie an der Universität Bremen, und geschäftsführender Gesellschafter des Beratungsunternehmens nextpractice, galt als Koryphäe in der Erforschung von Komplexität. Ich zitiere ihn aus einem Beitrag im Magazin „managerseminare“:

[die Führungskraft] „richtet ihren Blick auf das Zusammenspiel von Menschen und Prozessen, ihre eigenen Ideen und Erwartungen schiebt sie erst einmal beiseite.“

So sei es auch wichtig, Ideen nicht sofort zu bewerten.

Beobachten, ohne zu bewerten?

Dieses „Beobachten, ohne zu bewerten“ gilt nach Andree Martens, stellvertretender Chefredakteur der „managerSeminare“ und Autor des Beitrags, neben dem „Nicht-Entscheiden“ als wichtigste Komplexitätskompetenz.

Auch wenn Krause mit seinem Begriff der freischwebenden Aufmerksamkeit eine leicht veränderte Wortwahl trifft, ist doch das Vorbild unverkennbar. Die von Sigmund Freud,dem Begründer der Psychoanalyse, mit gleichschwebender Aufmerksamkeit beschriebene Haltung wird dem Psychologen vielleicht nicht direkt als Vorbild gedient haben.

Seine Ausführungen zu diesem Begriff lassen mich jedoch an diesen Kernbegriff der Psychoanalyse denken, der seit seiner Einführung durch Freud 1912 den Dreh- und Angelpunkt psychoanalytischer Haltung bildet.

Wie psychoanalytische Denken ein besseres Verständnis für komplexe Systeme ermöglicht

Was für Unternehmer eine ständige Aufgabe im Management von Wirtschaftssystemen darstellt, und als ein zunehmendes Problem diskutiert wird, kann für den Umgang mit der menschlichen Psyche ebenso uneingeschränkt gelten: je komplexer die Zusammenhänge, desto wichtiger ist es, die Zahl der Möglichkeiten, wie etwas zu verstehen oder zu bewältigen ist, nicht zu schnell zu reduzieren.

So könnte die Aussage eines weiteren Fachmanns für Komplexität in der Wirtschaft, Heinz Peter Wallner, auch für die analytische Situation gelten. Der Autor zitiert ihn mit einem

Praxistipp: sich nicht frühzeitig für eine der Wahlmöglichkeiten zu entscheiden, sondern so lang wie möglich konkurrierende im Kopf behalten.“

Das erinnert mich an eine Aussage des britischen Psychoanalytikers Wilfred R. Bion, er könne während einer Stunde mit Analysanden zugleich fünf verschiedene Deutungsoptionen im Kopf haben. Dann heiße es warten, bis sich die geeignete herauskristallisiere.

Wallner weiter:

„So hält man seine Wahrnehmung offen für die Vorteile verschiedener Lösungen – und findet wahrscheinlich einen dritten Weg, der die Vorteile kombiniert.“

Dass diese Haltung nicht gerade einfach einzunehmen ist, beweisen die vielen Versuche, mittels ausgeklügelter Strategien die verwirrende Vielfalt komplexer Systeme zu vereinfachen, um damit die Wahlmöglichkeiten zu reduzieren. Das gilt sowohl für die Unternehmensführung und -beratung, als auch für therapeutisches Vorgehen.

Noch einmal zu Bion: er favorisiert mit seiner Haltung des „No memory, no desire, no understanding“ eine radikale Zurückhaltung des Analytikers. Er solle sich dem Geschehen in der analytischen Situation „ohne Erinnerung, ohne Begehren, ohne Verstehen“ widmen. Kurz: unter Auslassung jeglicher Aktivitäten, die das Geäußerte filtern, selektieren, oder durch ein voreingenommenes Verständnis des Gesagten begrenzen sollen.

Dieses Vorgehen ist kontraintuitiv. Wie lässt sich eine solche Haltung rechtfertigen?

Glauben wir den Wirtschaftsfachleuten, die mit komplexen Phänomenen vertraut sind, dann trägt das „Nicht-Entscheiden“ der Tatsache Rechnung, dass sich Sachverhalte durch die Entscheidung selbst bereits in maßgeblicher Weise verändern. Mitunter werden so die Auswirkungen der Entscheidung selbst zum größten Problem.

Wallner formuliert:

„In der Regel entscheiden wir uns schnell für eine Alternative, bewusst oder unbewusst, und suchen ab dann nur noch nach Informationen, die unsere Entscheidung bestätigen.“

Wie schwer es ist, eine offene Haltung zu bewahren, erfährt jeder, der im Eifer des Gefechts versucht, sich zurückzuhalten, wahrzunehmen und das Geschehen auf sich wirken zu lassen, ohne vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Er wird rasch merken, wie sich Gedanken aufdrängen. Das verstärkt den Impuls, einzugreifen, oder auch nur gedanklich zu selektieren, was wichtig oder unwichtig ist.

Es bedarf eines Lernprozesses, eines geduldigen Übens, um sich mit dieser Haltung des „Nicht-Entscheidens“ vertraut zu machen. Zudem ist nicht jede Situation dazu geeignet.

Es versteht sich von selbst, dass Krisensituationen oftmals ein umgehendes Handeln notwendig machen.

Was sich jedoch zur Krise entwickelt hat, ist im Vorfeld oftmals weitaus weniger drängend gewesen. Womöglich ließe sich mit der beschriebenen, zurück genommenen Haltung gerade eine krisenhafte Zuspitzung vermeiden. Dann nämlich, wenn die Offenheit der Wahrnehmung auch solche Phänomene erfasst, die sich mehr in den Randbereichen des Geschehens abspielen. Dass sich dort nicht selten mögliche Faktoren identifizieren lassen, die zur Entwicklung einer Krise beitragen, zeigt die Praxis des fokal-afokalen Sehens, wie es Gerhard Schneider, Psychoanalytiker aus Mannheim, als eine Metapher für psychoanalytisches Denken formuliert.

Das Auge als Beispiel für den Umgang mit komplexen Informationen und Systemen.

Die Neuroanatomie des menschlichen Auges gibt ein gutes Beispiel dafür, wie Strukturen durch die Funktion gebildet werden, der sie gerecht werden müssen. Im Auge befinden sich die Sinneszellen, die für die Wahrnehmung von Bewegungen und Veränderungen spezialisiert sind, in den Randbereichen des unscharfen Sehens. Nur ein kleiner Teil im Zentrum des Sehfeldes dient der Fokussierung, um sich auf einen begrenzten Bereich konzentrieren zu können.

Sobald aus der Peripherie eine Bewegung signalisiert wird, die eine Gefahr darstellen könnte, werden Alarm-Verschaltungen des Gehirns aktiviert, die dazu führen, dass wir uns der potentiellen Gefahr zuwenden, um sie zu fokussieren. Damit werden Bereiche des zentralen Sehens aktiviert. Die Fähigkeit, auch die Randbereiche „im Blick“ zu behalten, bleibt jedoch jederzeit bestehen.

Eine solche Funktion des „Sehens in den Randbereichen“ wäre vergleichbar mit der Bereitschaft, sich nicht vorschnell auf das scheinbar Wesentliche im Mittelpunkt des Geschehens zu konzentrieren.

Mit dieser kurzen Betrachtung, mit der ich die sogenannte gleichschwebende Aufmerksamkeit der Psychoanalyse mit der von Peter Krause eingeführten „freischwebenden Aufmerksamkeit“ im Management verglichen habe, möchte ich ihr Augenmerk beispielhaft auf mögliche Themen lenken, in denen Psychoanalyse und andere Gesellschaftsbereiche vom gemeinsamen, kritischen Diskurs und vom offenen Erfahrungsaustausch profitieren könnten.

Zugleich bietet die von mir diskutierte Herangehensweise der gleichschwebenden Aufmerksamkeit eine Möglichkeit, sich komplexen Informationen und Systemen zuzuwenden, ohne mit der Betrachtung von Details den Blick für das Ganze zu verlieren.

Quellen:

managerSeminare, Heft 187, Oktober 2013, S. 24ff.
Freud, S. (1912) Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 376-387.
Schneider, G. (2003): Fokalität und Afokalität in der (psychoanalytischen) tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und Psychoanalyse. In: Gerlach, A., Schlösser, A.-M. & Springer, A. (Hg.): Psychoanalyse mit und ohne Couch. Haltung und Methode. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 108-125.

Bildrechte: „Graph betweenness“ von Claudio Rocchini – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY 2.5 über Wikimedia Commons