Projektive Identifizierung als frühe Form der Kommunikation

Die unbewusste Fähigkeit, innere Spannungen und Gefühlszustände, die sich (noch) nicht in Worte fassen lassen, in andere gleichsam hinein zu verlagern, bezeichnet die Psychoanalyse als „projektive Identifizierung“ – manche sagen auch „projektive Identifikation“. Was sich als ein Ausdruck einer inneren Spaltung des Patienten verstehen lässt, von dem ich im Artikel „Szenisches Verstehen in der Supervision“ schrieb, findet sich in der Behandlung von schwer gestörten Patienten sehr häufig.

Sie basiert auf einer entwicklungspsychologisch frühen Form der Kommunikation. Mit ihr gelingt es schon Säuglingen, ihre primären Bezugspersonen, zu allererst die Mutter, auf ihre innere Not, d.h. basale Angstgefühle, körperliches Unwohlsein oder Schmerzen aufmerksam zu machen.

Menschen, die in ihrer frühesten Kindheit an einem Mangel an aufmerksamer Zuwendung und Fürsorge gelitten haben, verwenden diesen unbewussten Mechanismus der Kommunikation, die projektive Identifizierung, wesentlich häufiger als andere. Sie sehen sich innerlich oft mit „unverdauten Gefühlszuständen“ konfrontiert.

Der innere, psychische Raum als „seelischer Verdauungsapparat“

Man kann es sich so vorstellen, dass sich im Laufe der kindlichen Entwicklung die Fähigkeit entwickelt, belastende Gefühle, Stimmungen und Spannungen auszuhalten und zu verarbeiten. Zur Entwicklung dieses „inneren Halts“ benötigt das Kind die Resonanz einer fürsorglichen Beziehung. In dieser Beziehung werden solche inneren Zustände zunächst durch die aufmerksame Reaktion seiner Bezugsperson gemildert. Ich vergleiche diese Fähigkeit mit einer Art seelischem Verdauungsapparat, der sich somit zunächst in der Beziehung, sagen wir einmal zwischen Säugling und Mutter, mehr auf der Seite der Mutter befindet. „Verdauungsapparat“ entspricht dabei einem Bild, welches der britische Psychoanalytiker Wilfred R. Bion verwendet hat, um diese Form der seelischen Funktion zu illustrieren.

Wenn ein Mangel an einfühlsam haltenden Beziehungen verhindert hat, dass sich ein ausreichend aufnahmefähiger, innerer, seelischer „Raum“ entwickeln konnte, leidet darunter die Entwicklung der oben angesprochenen, inneren Verdauungsfunktion des Säuglings.

Dieser psychische Raum dient vor allem dazu, starke Emotionen und zwiespältige Gefühle, die eine hohe, seelische Spannung erzeugen, zu verarbeiten und innerlich zu „halten“. Das aber ist erforderlich, um in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen reagieren können, ohne diese inneren Spannungszustände – wie in der frühesten Kindheit mangels Alternativen „in“ den seelischen Verarbeitungsapparat der Mutter – nach außen zu verlagern.

Dieses Halten innerer Spannung ist eine wichtige Grundlage für das, was wir Frustrationstoleranz nennen. Auch unser Reflexions- und Introspektionsvermögen basiert darauf. Wir lernen, abwägend zu denken und uns in uns selbst und in andere hineinzuversetzen, um die Handlungsmotive des anderen zu verstehen. Heute spricht man davon auch oft als Mentalisierungsfähigkeit.

Von der therapeutischen Situation der Psychoanalyse zur beruflichen Situation im „psychosozialen Alltag“

In der psychotherapeutischen Behandlung von Patienten mit frühen Störungen der Persönlichkeitsentwicklung, auf die ich mich im Laufe meiner psychoanalytischen Weiterbildung spezialisiert habe, spielt dieser frühe Kommunikationsprozess eine besondere Bedeutung.

Was ich im intensiven Kontakt mit meinen Patienten in der Behandlungsstunde als Ausdruck innerer, seelischer Spannungen wahrnehme, lässt sich unter therapeutischen Bedingungen besonders gut beobachten. Es lässt sich verstehen als eine Art direkter, emotionaler Kommunikation. Ich habe gelernt, diesen Mitteilungen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sie bilden die lebensgeschichtlich frühe Grundlage für viele Phänomene, die die Psychoanalyse als Übertragung und Gegenübertragung bezeichnet.

Diese projektiven Mitteilungen entgehen unter den Alltagsbedingungen der Arbeit mit Patienten auf einer psychiatrischen Station, in der Betreuung von Klienten in sozialen Einrichtungen, aber auch im aufsuchenden Kontakt sozialer Betreuungen oft der Aufmerksamkeit.

Dann kommt es vor, dass Sie sich nach einem Kontakt mit einem Klienten vielleicht nur wie „ausgelaugt“ fühlen. Oder Sie bemerken, dass Sie besonders ungeduldig oder gereizt reagieren, obwohl Sie sich bewusst gerade um diesen Patienten besonders bemühen.

Während meiner Tätigkeit als Arzt in Einrichtungen der Drogen- und Wohnungslosenhilfe habe ich oft beobachten können, wie beeinträchtigend eine solche Dynamik sich auf die Arbeit mit den dortigen Klienten auswirkte.

Aus solchen problematischen, kommunikativen Situationen entwickeln sich sehr häufig frustrierende Begleitungs- oder Behandlungsverläufe, in denen sich Missverständnisse, genervte Konfrontationen oder gegenseitige Enttäuschungen entwickeln.

Mit dem geschulten Sinn für diese projektiven Identifizierungen können Sie besser verstehen lernen, warum Sie auf diese Patienten bzw. Klienten scheinbar grundlos aggressiv reagieren. Sie können daraus ein vertieftes Verständnis für Ihren Patienten oder Klienten entwickeln, um solche unglücklichen Verläufe zu verhindern.

Wie lässt sich dieser Sinn schulen?
Wenn Sie mir bis hierhin folgen konnten, haben Sie vermutlich eine erste Vorstellung von dem Phänomen der projektiven Identifizierung, Sie sind aber noch weit davon entfernt, sich so vertraut damit zu fühlen, dass Sie es als hilfreiches Konzept einsetzen könnten, um im Alltag Ihre Patienten besser verstehen zu können.

Eine noch ungeklärte Frage ist zum Beispiel, mit welchem „Wahrnehmungsorgan“ sie diese projektiven Identifizierungen als solche erkennen können. Zunächst einmal ist da ja nur das Gefühl, im Kontakt mit Ihrem Patienten oder Klienten plötzlich ärgerlich zu werden, besonders müde oder unruhig. In der Psychoanalyse arbeiten wir in diesem Fall mit der Vorstellung, dass sich diese Gefühle als sogenannte Gegenübertragungsgefühle von eigenen, „aus uns selbst“ stammenden Gefühlen unterscheiden.Damit diese Unterscheidung jedoch gelingt, ist es notwendig, sich einigermaßen vertraut zu fühlen mit den eigenen Gefühlen.

Die Schulung der Wahrnehmung dieser Gegenübertragung könnten wir also als eine Form der Selbsterfahrung bezeichnen, oder noch weiter gefasst als Bestandteil der Selbstreflexion. Wir müssen in der Lage sein, in der jeweiligen Situation zumindest einen Teil unserer Sinne „nach innen zu richten“, um zugleich uns und den anderen im Blick zu haben.

Aber zunächst sind Ihnen all diese Zusammenhänge nicht klar, und Sie bekommen vielleicht nur ein schlechtes Gewissen, wenn Sie aggressiv auf einen Klienten reagiert haben oder sich bei Ausflüchten ertappen, um die Begegnung mit einem Patienten zu vermeiden.

Befassen wir uns zum besseren Verständnis dessen, was ich gerade als projektive Identifizierung beschreibe, noch ein bisschen mit den theoretischen Hintergründen und der Entstehungsgeschichte dieses Konzepts.

Woher stammt das Konzept der projektiven Identifizierung?

Das Konzept der projektiven Identifizierung entstammt der psychoanalytischen Schule Melanie Kleins und ihrer Nachfolger, die sich in ihrer Arbeit besonders intensiv der Behandlung früh gestörter Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Psychosen oder schweren narzisstischen Störungen widmeten und widmen.

Zuvor hatte bereits ein weiterer Schüler Freuds, Edoardo Weiss, 1925 diesen Begriff (meines Wissens) erstmalig verwendet, um mit ihm bestimmte Phänomene von Introjektion und Projektion besser beschreiben zu können.

Melanie Klein konzipierte dieses Phänomen zunächst als einen Abwehrmechanismus, durch den schwer erträgliche Gefühlszustände sozusagen in den anderen „ausgelagert“ und dort – gleichsam als Gefühle des anderen – ent-sorgt werden.

Wilfred R. Bion, einer der bedeutsamsten Nachfolger Melanie Kleins, beschrieb dieses Phänomen dann jedoch auch als Ausdruck eines ganz normalen Mechanismus, der eben ursprünglich nur einer sehr frühen Lebensphase angehört. Er dient primär der Kommunikation, um Seelisches, das sich (noch) nicht in Sprache fassen lässt, mitteilen zu können. Unter bestimmten Umständen wird er auch von psychisch gesunden, erwachsenen Menschen verwendet. Diese Form der Kommunikation geschieht unbewusst. Das bedeutet, dass auch der Betreffende zunächst nicht in der Lage ist, über sein Verhalten oder die zugrunde liegenden innere Verfassung nachzudenken und sie zu verstehen.

Das Phänomen der „Projektion“ ist allgemein so bekannt und akzeptiert, dass es bereits in die Alltagskommunikation Eingang gefunden hat. Der Begriff der projektiven Identifizierung ist jedoch weitaus weniger verbreitet, und am ehesten noch Fachkräften der psychosozialen Berufe bekannt, die sich schon einmal mit dem Konzept der Borderline-Störungen von Otto F. Kernberg befasst haben.

Otto F. Kernberg beschreibt, dass Patienten ihr Gegenüber in ihre innere Konflikt-Konstellation einbeziehen, um sich selbst seelisch von unerträglichen inneren Zuständen zu befreien.

Wie sich das Verständnis projektiver Identifizierung in der psychoanalytischen Supervision nutzen lässt

Psychoanalytiker widmen einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit der oben kurz genannten Übertragung und Gegenübertragung. Als psychoanalytischer Supervisor nutze ich diese Aufmerksamkeit auch im Supervisionsprozess. Anders als im therapeutischen Setting verwende ich meine Eindrücke, die sich aus dieser Aufmerksamkeit für unbewusste Phänomene ergeben, jedoch nicht, um zu „deuten“, wie die besondere Form psychoanalytischer Interventionen und Interpretationen genannt wird.

Ich stelle Ihnen diese als Beobachtung – z.B. im Rahmen einer Fall-Supervision – umgehend zur Verfügung. So kann sie anschließend genutzt werden, um gemeinsam Arbeitshypothesen zu entwickeln. Dieser Unterschied zur psychotherapeutischen Anwendung der Psychoanalyse ist mir besonders wichtig.

Supervision definiere ich als „Beratung im beruflichen Kontext“. Nur für diese erhalte ich Ihren Auftrag. Das bedeutet, dass das Gespräch in der Supervisionssitzung ausschließlich dazu dient, gemeinsam problematische Entwicklungen zu identifizieren, sie so gut wie möglich zu verstehen und daraus Lösungen für  Ihre Fragestellungen zu entwickeln.

Wenn sich so zum Beispiel aus einer von Ihnen geschilderten Arbeitssituation der Hinweis auf projektive Identifizierungen ergibt, erkläre ich, wie ich zu dieser Einschätzung gelangt bin, und setze Sie somit in die Lage, meine Beobachtung zur Erweiterung Ihres eigenen, fachlichen Erfahrungswissens zu nutzen. Aus diesem vertiefenden Verständnis ergeben sich Möglichkeiten, professionelle Umgangsformen mit Patienten und Klienten zu bilden, die an schweren Störungen der Persönlichkeitsentwicklung, Psychosen oder autistischen Störungen leiden.