Träumen als Visionsarbeit?
In der Organisationsentwicklung und im Change-Management steht nicht nur das operative Geschäft auf der Tagesordnung, sondern auch der „große Bogen“, die langfristige Entwicklung einer Organisation. Im Tagesgeschäft kommt dieser Bereich der Führungsverantwortung oft zu kurz. Dabei ist die strategische Ausrichtung eines Unternehmens anhand von Visionen, die sich an organisationsspezifischen Werten und Leitlinien orientieren, für die Positionierung der Organisation gegenüber ihrer Konkurrenz wichtig, aber auch für die Identifizierung ihrer Mitarbeiter mit ihrem Unternehmen.
Dieses Zitat von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt dient Kritikern der Leitlinien-Arbeit gerne als bon mot und Untermauerung ihrer Argumente. Schmidt selbst distanzierte sich von seine eigenen Worte als „pampige Antwort auf eine dusselige Frage.“
Nicht ohne Grund. Denn wer sein Unternehmensziel oder die Leitlinie seiner Organisation mit wenigen Worten umreißen kann, steht besser da. Vergleichbar einem „elevator pitch“, dem berühmten Sekunden-Statement, das einem die Zeit einer Aufzugfahrt mit einem potentiellen Kunden oder dem zukünftigen Chef gibt, um zu sagen, was man zu sagen hat, kann eine markant formulierte Aussage entscheidende Überzeugungsarbeit leisten.
Und jetzt sollen Unternehmen und Organisationen träumen? Offenbar. Zumindest, wenn man einer der führenden Fachzeitungen für Organisationsentwicklung, dem Schweizer Magazin gleichen Namens (OrganisationsEntwicklung – Zeitschrift für Unternehmensentwicklung und Change Management) glauben darf.
Träumen in der Organisationsberatung
Haben Sie schon einmal davon geträumt, in fünf oder zehn Jahren an einem bestimmten Punkt Ihrer persönlichen oder beruflichen Entwicklung zu stehen? Statt zu planen, welche konkreten Schritte Sie unternehmen müssen, lassen Sie sich zunächst einmal von Gefühlen und Wünschen leiten. Persönliche Werte und Ziele, sowie kreative Ideen, wie diese zu erreichen wären, stehen dabei im Mittelpunkt.
Dieses „Erträumen der Zukunft“ wird zunehmend auch in der Beratung von Unternehmen und Organisationen als gemeinsamer Prozess der Leitlinien-Entwicklung eingesetzt.
Es mutet vielleicht ein bisschen seltsam an, dass Zahlen- und Fakten-Menschen wie Manager großer internationaler Konzerne sich dem Träumen hingeben, um sich ein Bild von der zukünftigen Entwicklung ihrer Firma zu machen. Management heißt schließlich Planen und Strategien entwickeln. Dass dabei einmal so Ungeplantes wie das Träumen eine Rolle spielen könnte, davon träumten selbst Traum-Fachleute wie wir Psychoanalytiker in unseren kühnsten Vorstellungen nicht.
Wenn Organisationen träumen – von der Visionsarbeit zur „organization in mind“
In der psychodynamischen Organisationsberatung gibt es eine besondere Form des Träumens in Unternehmen. Sie wurde entwickelt, um ein genaueres Bild von den verborgenen, unbewussten „Modellen“ einer Organisation zu gewinnen, die in den Köpfen ihrer Mitarbeiter existieren: das „Soziale Träumen“. Diese inneren Bilder prägen das verborgene Selbstverständnis in Ihrer beruflichen Rolle. Sie stehen für ihre individuellen Einstellungen, Haltungen und Wünsche. Mit ihnen gestalten Sie die Rollenvorgaben Ihrer Organisation. Sie bilden die Matrix für Ihre persönliche Herangehensweise, mit der Sie berufliche Aufgaben bewältigen.
In der persönlichen Traumanalyse geben die geträumten Inhalte Aufschluss über die individuellen, unbewussten Gedanken, Vorstellungen, Phantasien und Wünsche des Betreffenden. Das Soziale Träumen nutzt die Trauminhalte ausschließlich dazu, um sich ein Bild von der „Organization in Mind“ der Beteiligten zu machen. Persönliche Träume werden daraufhin untersucht, welche Hinweise sie auf die inneren Bilder Ihrer beruflichen Rolle und der Organisation geben, in der Sie arbeiten.
Dabei wird deutlich, dass die Träume von Mitarbeitern einer Organisation auch von Begebenheiten oder Konflikten handeln, die nicht offen thematisiert werden (können). Diese Träume zeichnen dann dass innere Bild der „Konfliktlinien“ wie eine Art innerer Landkarte nach.
Soziales Träumen liest die innere Landkarte Ihrer „organization in mind“
Dieser ungewöhnliche, überaus spannende Prozess des gemeinsamen Arbeitens mit Träumen kann Teil einer organisatorischen Rollenanalyse sein, aber auch in einer Gruppen-Supervision eingesetzt werden, in der die Teilnehmer in unterschiedlichen Organisationen und Arbeitsfeldern tätig sind.
Das gemeinschaftliche „Träumen“ ist natürlich nicht wirklich ein Träumen in der Gruppe. Jedenfalls nicht, wenn Sie dabei an das nächtliche Träumen denken. Vielmehr bietet es einen Zugang zu Aspekten, die im bewussten Denken über das Geschehen im „Tagesgeschäft“ eine untergeordnete Rolle spielen – bis sie sich als „Störgrößen“ bemerkbar machen.
Seit Sigmund Freud 1900 sein Jahrhundertwerk „Traumdeutung“ schrieb, hat sich die psychoanalytische Traumtheorie und das Arbeiten mit Träumen stetig weiter entwickelt. In ihren Anfängen stand der verborgene Wunsch als Inhalt des Traums ganz im Zentrum des Träumens.
Der Königsweg zum Unbewussten – Traumdeutung in der Psychoanalyse Sigmund Freuds
Mit Hilfe der Traumanalyse entwickelte Freud seine Theorie des Unbewussten als des Teils der menschlichen Seele, der dem Bewusstsein unzugänglich ist.
Mit seiner Eisberg-Metapher verdeutlichte er den Stellenwert dieses unbewussten Bereichs der Psyche. Das Bewusstsein bildet die Spitze eines Eisbergs, während das unsichtbare, unter der Wasseroberfläche liegende Unbewusste die riesige Basis ausmacht.
Dieser Basis gilt es durch die Traumdeutung auf die Spur zu kommen. Um die Trauminhalte zu verstehen, muss man die Funktionsweise kennen, mit der das Unbewusste Träume produziert. Mit der Entdeckung der Mechanismen
- Verdichtung
- Verschiebung und
- Verkehrung ins Gegenteil
und deren genauer Kenntnis in der Analyse von nächtlichen Träumen hatte Freud eine Möglichkeit gefunden, die verschlüsselten Botschaften des Unbewussten zu entziffern. Dass diese Entschlüsselung nicht ohne die freien Assoziationen des Träumenden möglich ist, stellte Freud schon damals heraus. Frühere Traumtheorien behaupteten noch, dass es möglich sei, Träume schematisch zu verstehen, also nach immer der gleichen Kodierung von Bildern und Sequenzen.
Vom „Traum“ Sigmund Freuds zum „Träumen“ der modernen Psychoanalyse
In ihren Anfängen war die Deutung nächtlicher Träume ganz auf die Entdeckung biografischer Hintergründe ausgerichtet.
Mit der Entwicklung psychoanalytischer Theorien des Denkens wurde auch das Träumen selbst als seelischer und neurophysiologischer Vorgang zum Forschungsgegenstand. Am gründlichsten hat dies der britische Psychoanalytiker Wilfred R. Bion studiert. Er beschreibt das Träumen als eine Grundfunktion des Denkens. Mit seiner „Reverie“ als „träumerischem Denken im Wachen“ formuliert er ein Modell unbewussten Denkens.
Diesem Modell liegt die Annahme zugrunde, dass das Unbewusste nicht nur als Raum oder Ort zu verstehen ist, in dem verdrängte Vorstellungen und Wünsche deponiert werden. Während Sigmund Freud mit seinem topischen Modell das Unbewusste vor allem örtlich-räumlich definierte, und die Träume als Botschaften aus diesem „Raum“ interpretierte, ist das Träumen im Bion’schen Verständnis also ein Vorgang, der ständig abläuft.
Das Unbewusste wird von Bion als ein Prozess, ein aktives und kreatives Moment des Psychischen definiert.
Bion forschte, wie sich dieser unbewusste Teil des Denkens nutzen lässt. Er betrachtete das Träumen nicht nur als individuellen, seelischen Vorgang, sondern auch als wesentlichen Bestandteil der Kreativität und der Interaktion. Er arbeitete intensiv mit Gruppen, und studierte die kommunikativen Prozesse im Gruppengeschehen. Seine Erkenntnisse liegen vielen psychoanalytisch-psychodynamischen Verfahren zugrunde, die in der Supervision und dem psychodynamischen Coaching eingesetzt werden.
Mit seiner „träumerischen“ Denktheorie stellte er die unbewusste Interaktion zwischen Menschen in den Vordergrund. Dieses Modell ermöglicht einen einzigartigen Zugang zu unbewussten Anteilen der Kommunikation. In der Supervision oder Beratung von Organisationen eingesetzt, leistet es eine unschätzbare Hilfe, wenn es um ein vertiefendes Verständnis dessen gehen soll, was als Störgröße oder kreative Ressource Ihre tägliche Arbeit prägt.