Wie lassen sich psychisch kranke Patienten oder Klienten besser verstehen?
Lesen Sie in diesem Tutorial, wie sich szenisches Verstehen in der Supervision verwenden lässt, um Informationen über diese seelischen Prozesse zu erhalten und zu nutzen.
So erlebte ich es häufig während meiner Arbeit als Assistenzarzt einer psychiatrischen Klinik und Stationsarzt einer Station, auf der junge Patienten mit Borderline-Störungen und Psychosen behandelt wurden.
Immer wieder gerieten bei Besprechungen des Stations-Teams die Mitarbeiter in Streit, wenn es um die Behandlung eines bestimmten Patienten ging, der das Team in seinen Auffassungen regelrecht zu spalten schien.
Während einige Kollegen die ständigen Regel-Übertretungen beklagten und Sanktionen forderten, vertraten andere die Auffassung, dass dieser Patient der besseren Fürsorge bedürfe und „nicht so hart angefasst“ werden solle. Sie schienen ein besonderes Verständnis für diesen jungen Mann entwickelt zu haben, und warfen den „Hardlinern“ Unprofessionalität und Starrheit vor, was diese wiederum gegen sie aufbrachte.
Als Stationsarzt sah ich mich mit den Forderungen und Haltungen beider Gruppen konfrontiert und saß regelmäßig „zwischen den Stühlen“ dieser so gegensätzliche Auffassungen vertretenden, im übrigen allesamt ausgesprochen kompetenten Pflegekräfte, Therapeutinnen und Therapeuten.
Szenische Mitteilungen als „Handlungsdialog“
Erst als es uns gelang, die gesamte „Szene“ der Team-Besprechung als mögliche Inszenierung eines inneren, seelischen Prozesses dieses Patienten zu untersuchen, war es möglich, wieder miteinander zu sprechen, ohne sich in Vorwürfen zu ergehen.
Letztlich ließ sich erkennen, dass beide Parteien diesen Patienten gut verstanden, aber auf eine jeweils andere Weise. Während die eine Gruppe das Bedürfnis des Patienten aufgenommen hatte, freundlich umsorgt und wahrgenommen zu werden, ließ sich die Ablehnung der „Sanktionierer“ als ein anderer Teil des Patienten auffassen, mit dem er sich selbst ablehnte, ja oft regelrecht hasste.
Sobald es dem Stations-Team gelungen war, in einem nun für beide Seiten offenen Gespräch die damit verbundenen, starken Emotionen wahrzunehmen und auszuhalten, schien sich die nun wieder hergestellte, integrative Fähigkeit des Teams indirekt auch auf das Verhalten des besagten Patienten auszuwirken. Wir konnten feststellen, dass es nun wesentlich besser gelang, mit diesen auseinanderklaffenden Verhaltensweisen umzugehen, und angemessener auf ihn zu reagieren. Doch dazu musste die Situation, in der sich etwas ereignete, zunächst in die Untersuchung dessen einbezogen werden, was „verstanden werden wollte“.
Handlungsdialoge als „Inszenierungen“ seelischer Prozesse
Heute spricht man dabei oft von sogenannten Handlungsdialogen, die etwas von der inneren Not des Betreffenden vermitteln. Gelingt es, diese als eine Form der Kommunikation zu verstehen, kann diese unzureichende „seelische Verdauung“ in ihren Auswirkungen begriffen werden. So lassen sich solche Spannungen aushalten und später vielleicht auch – wenn sich eine Entspannung eingestellt hat – sprachlich mitteilen.
Als Supervisor von Fachkräften, die mit solchen Patienten arbeiten, verstehe ich den Raum der Supervision als Ort, in dem sich solche Enactments erkennen, verstehen und bewältigen lassen. Dabei achte ich in den Supervisionen besonders auf alles, was sich „nebenher“, also nicht-sprachlich mitteilt. Ich bin besonders aufmerksam, wenn es besonders „heiß hergeht“. Dabei verwende ich die Technik des „Szenischen Verstehens“, die vom deutschen Soziologen und Psychoanalytiker Alfred Lorenzer entwickelt wurde.
Szenisches Verstehen erfasst den Mitteilungscharakter einer Situation
Es gibt immer wieder Situationen, in denen die Sprache als Kommunikationsmittel versagt. Selbstverständlich können ja auch schwer gestörte Patienten sprechen. Aber wenn es darum geht, seelische Zustände auszudrücken, die mit starken Affekten verbunden sind, dann kann es einem schon unter „normalen“, nicht pathologischen Umständen sprichwörtlich die Sprache verschlagen.
Um diese seelischen Zustände verstehen und auf sie eingehen zu können, bedarf es in der Arbeit mit Patienten, die über eingeschränkte Möglichkeiten verfügen, ihre Affekte sprachlich auszudrücken, des systematischen, professionellen Einsatzes des szenischen Verstehens. Diese Technik lässt sich unter anderem im Rahmen psychoanalytischer Supervision erlernen. Das bedarf zunächst einmal „nur“ der Aufmerksamkeit auf nicht-sprachliche Mitteilungen. Das szenische Verstehen misst nun jedoch diesem Aspekt der Kommunikation den gleichen Stellenwert zu wie allen sprachlichen und mimisch-gestischen Mitteilungen. Alfred Lorenzer unterscheidet hierbei
- Logisches Verstehen – als Verstehen des Gesprochenen
- Psychologisches Verstehen des emotionalen Beziehungsgehalts- als Verstehen des Sprechenden
- Szenisches Verstehen – als Verstehen der Situation (in die der Empfänger der Mitteilung, aber auch die Umgebungsbedingungen mit einbezogen werden)
- Tiefenhermeneutisches Verstehen – als Verstehen der in Szenen verborgenen Wünsche und Abwehrvorgänge.
Damit wird auch all das, was „nicht gesagt wird“, als potentielle Mitteilung verstanden. Somit bietet diese Technik auch die Möglichkeit, ein weiteres, besonderes Phänomen zu erfassen, das in Supervisionen auftritt:
Die andere Seite der Medaille
Wenn es einmal scheinbar gar nichts zu besprechen gibt, obwohl das so gar nicht zur anspruchsvollen und engagierten Arbeit des betreffenden Teams oder der einzelnen Fachkraft zu passen scheint, lässt sich auch dieser Umstand als kommunikativer Ausdruck, als „andere Seite der Medaille“ verstehen. Denn auch das kann indirekt darauf hinweisen, dass dabei besonders heftige, nicht auszuhaltende Affekte im Spiel sind.
Dieses Phänomen kann eine Reaktion auf solche schwer verständlichen, seelischen Prozesse sein. Sie werden ausgeblendet, nicht wahrgenommen, oder affektiv abgespalten. Meistens lässt sich zunächst dann erst einmal nur feststellen, dass „etwas nicht stimmt“. Im gemeinsamen Gespräch kann man sich sodann auf die Suche danach begeben, was dieses Nicht-wahrnehmen ausgelöst haben könnte.
Auch auf diese Weise können sich solche schweren Kommunikationsstörungen oder „seelische Verdauungsstörungen“ bemerkbar machen und Eingang in den gemeinsamen Prozess des Verstehens finden.
Wenn ich etwas in mir spüre, das nicht zu mir gehört
Diese „seelischen Verdauungsstörungen“, bei denen sich wichtige, innere Vorgänge nicht sprachlich mitteilen, bilden sich nicht nur in der Situation, der „Szene“ ab, sondern äußern sich auch in einer anderen, nicht weniger schwer zu verstehenden Weise. Dass mein Stations-Team zunächst auf so heftige Weise in Streit geriet, verwies uns darauf, dass dieser Patient einen Teil seiner eigenen Gefühle offenbar „im Anderen“ untergebracht, also gleichsam in die Mitarbeiter hinein verlagert hatte.
Auch dieses Phänomen, das die Psychoanalyse als „projektive Identifizierung“ bezeichnet, zeigt sich besonders häufig in der Arbeit mit Patienten und Klienten, die unter schweren, frühen Störungen ihrer Persönlichkeitsentwicklung leiden.
Wie es sich verstehen lässt und wie sich psychoanalytische Supervision dafür nutzen lässt, können Sie im folgenden Artikel nachlesen: