In Zeiten großer Unsicherheit suchen Menschen Halt und Orientierung. Das gilt sowohl bei persönlicher Unsicherheit, als auch für gesellschaftliche Umwälzungen.

Wie jemand auf verunsichernde Erfahrung reagiert, hängt unter anderem davon ab, welche innere Haltung er dazu einnehmen kann.

Wichtig ist jedoch auch, in welcher Beziehung er zu anderen steht, ob er sich trotz dieser Unsicherheit mit Anderen verbunden fühlen kann.

Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die Europäische Union begann EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy seine Rede mit den Worten:

„In einer Zeit der Unsicherheit erinnert dieser Tag die Menschen in Europa und der ganzen Welt an den wesentlichen Zweck der Union: die Bruderschaft zwischen den europäischen Nationen zu fördern, jetzt und in der Zukunft.“

Die Verbindung der europäischen Staaten untereinander hat durch die Wirtschafts-Union wesentlich zur aktuellen Finanzkrise beigetragen. Gleichzeitig leben wir in Europa jedoch seit Jahrzehnten in einer der friedlichsten Regionen der Welt. Vor- und Nachteil stehen hier direkt nebeneinander, und es fällt schwer, die Auswirkungen der aktuellen Krise abzuschätzen.

Die Verständigung zwischen den so unterschiedlichen Staaten ist in Konflikten und Krisen gar nicht so leicht aufrechtzuerhalten. Ein friedvoller Umgang miteinander und das gegenseitige Verständnis ist nicht durch einen einmaligen Akt zu erreichen. Beides bedarf des ständigen, gemeinsamen Bemühens. Das ist oft nicht leicht zu akzeptieren, und es ist verunsichernd.

Nun ist Sicherheit aber ein menschlichen Grundbedürfnis. Das machen sich gerade in Krisenzeiten diejenigen zunutze, die mit der Angst vor Unsicherheit spielen. Sie versprechen einfache, schnelle Lösungen. Auf gesellschaftlicher Ebene sind Krisenzeiten auch die Zeiten extremistischer Standpunkte. Rufe nach mehr Kontrolle, Abgrenzung nach außen und charismatischen Führern werden laut.

Auch auf der persönlichen Ebene und in Organisationen führen Krisen und Konflikte schnell zu Polarisierungen in „wer hat Recht – wer hat Unrecht“. Das bietet tolle Gelegenheiten für Besserwisser. Einfache Lösungen haben eine hohe Suggestivkraft, dass alles wieder gut werden kann. Wenn man nur daran glaubt…

Die große Ratlosigkeit

Die Dezember-Ausgabe 2012 von „Psychologie Heute“ titelt mit „Die große Ratlosigkeit – Lernen, mit Unsicherheit zu leben“. In ihrem Leitartikel „Weil es so oft anders kommt: Die Kunst, mit Unsicherheit zu leben“ finden sich Ratschläge, wie der Suche nach vermeintlicher Sicherheit zu widerstehen ist. Die Autorin Ursula Nuber empfiehlt:

  • Kontrollillusionen aufzugeben
  • den eigenen Denkstil zu ändern
  • die Grenzen des eigenen Wissens anzuerkennen
  • nicht dem Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen
  • nicht der Versuchung zu erliegen, blind Expertenrat zu folgen, um den Risiken des Daseins zu entkommen.

Sie führt zudem als eine der Möglichkeiten, mit Unsicherheit zu leben, ein Konzept an, das von der Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik entwickelt wurde.

Die Ambiguitätstoleranz

Frenkel-Brunswik befasste sich mit der Schwierigkeit, Mehrdeutigkeiten zu ertragen, und beschrieb die

Ambiguitätstoleranz als Fähigkeit, die Widersprüchlickeit gegensätzlicher Sachverhalte auszuhalten, und sich durch Perspektivenwechsel in die Sichtweise anderer Menschen hineinversetzen zu können.

Sie stellte die Unfähigkeit zur Ambiguitätstoleranz in die Nähe der Ablehnung des Fremden resp. fremder Kulturen. Zugleich beschrieb sie in ihren sozialpsychologischen Studien bereits 1949 das „Schwarz-Weiß-Denken“ als eine der Ausdrucksformen der Intoleranz von Ambiguität. Damit führt sie uns zu einem verführerischen Phänomen, das der Bewältigung komplexer Sachverhalte dienen soll, letztlich jedoch nur das eigene Unbehagen mit der Unsicherheit vertreibt, indem es Vereinfachungen herstellt.

Dieses Schwarz-Weiß-Denken ist Fachkräften, die in psychosozialen Einrichtungen arbeiten, auch als Denkmodus von Menschen bekannt, die unter frühen Störungen der Persönlichkeitsentwicklung leiden.

Um uns mit den Gegensätzlichkeiten verschiedener Kulturen, Haltungen und Einstellungen auf einer Ebene der gegenseitigen Offenheit auseinanderzusetzen, müssen wir jedoch versuchen, dem Schwarz-Weiß-Denken („das ist gut – das ist schlecht“) und der vermeintlichen Sicherheit in der Abschottung gegenüber Andersdenkenden zu entkommen.

Die „negative Fähigkeit“

Eine der seelischen Kompetenzen, die uns helfen können, Unsicherheit auch unter Spannung und Stress auszuhalten, beschreibt die Psychoanalyse – der Sprache des wichtigsten englischen Dichters der Romantik, John Keats, folgend,  als „negative Fähigkeit“. So stellt Wilfred R. Bion dem letzten Kapitel von „Aufmerksamkeit und Deutung“ ein Zitat von Keats voran:

 Negative Fähigkeit hat jemand, der zwischen Unsicherheiten, Geheimnissen und Zweifeln ausharren kann, ohne sich zu einer erregten Suche nach Fakten und Gründen gedrängt zu fühlen. (Übers. d. Autors)

In der psychoanalytischen Supervision steht diese Fähigkeit als Grundhaltung im Mittelpunkt. Sie wendet sich dem Konflikthaften in menschlichen Beziehungen auch im beruflichen Kontext mit der gleichen Offenheit zu, mit der Psychoanalytiker in der sogenannten gleichschwebenden Aufmerksamkeit während der Analysestunden arbeiten.

Was Nuber in ihrem Leitartikel als „die Grenzen des eigenen Wissens anerkennen“ umschreibt, findet sich im „Nicht-Wissen“ Bions wieder, das ich bereits in meinem Beitrag „Was ist Supervision“ kurz beschrieben habe. Es kann in Verbindung mit der offenen Aufmerksamkeit der „negativen Fähigkeit“, die zunächst einmal nicht auswählt, was wichtig und richtig ist, einen Prozess des Nachdenkens ermöglichen, der innerhalb kurzer Zeit sehr dynamisch wird. Selbst in einer einzigen Supervisions-Stunde kann so zum Beispiel – richtig angewandt – deutlich werden, was im Fokus der Aufmerksamkeit stehen muss… und das ist oftmals nicht das, was wir eingangs denken.

It is that which we do know which is the great hindrance to our learning, not that which we do not know. Claude Bernard

Eben genau dieses „Wir wissen eh schon, worum es geht“ erweist sich bei schwierigen Fragestellungen als gravierendes Hindernis. Es wäre also sehr wünschenswert, möglichst oft mit einer solchen, offenen Haltung ins Gespräch zu gehen.

Doch wie lässt sich nun diese Haltung einnehmen?

Damit kommen wir wieder zum Ausgangspunkt dieses Artikels. Diese offene Haltung setzt voraus, dass wir lernen, mit der Unsicherheit des „Nicht-Wissens“ umzugehen. Dass wir etwas von der negativen Fähigkeit in uns bewahren, selbst wenn alles nach schnellen Lösungen drängt, nach Halt und Orientierung gebenden Fakten ruft und etwas „auf den Punkt“ bringen will.

Wenn Sie sich in dieser Haltung üben, werden Sie mit Widerstand und Neid rechnen müssen, denn wenn jemand zeigt, dass er dazu in der Lage ist, Unsicherheit auszuhalten, dann hat er denjenigen, die nach schneller Sicherheit suchen, immer etwas voraus.