Im Laufe der vergangenen 100 Jahre hat sich das psychoanalytische Gebäude zu einem weitläufigen Komplex mit vielen verschiedenen Seitenflügeln, Anbauten, aufgestockten Etagen und verwinkelten Gängen entwickelt.

Man spricht von Freudianern, Kleinianern oder Lacanianern, und meint damit die Vertreter unterschiedlicher Schulen, die nach ihren Begründern benannt sind. Es lässt sich unschwer vorstellen, dass die Geschichte der Psychoanalyse auch von ausgiebigen Auseinandersetzungen dieser Schulen geprägt ist.

Die theoretischen Ausrichtungen sind vielfältig. Wir kennen z.B. Selbst- und Ich-psychologische Methoden, objektbeziehungspsychologische Theorien, strukturalistische Modelle oder klassische, triebpsychologische Ansätze, um nur einige von ihnen zu nennen.

Es mag sein, dass dieser Pluralismus „der“ Psychoanalyse als psychologischer Theorie an Kraft geraubt hat, so wie ein Fluss, der sich in verschiedene Seitenarme aufgliedert, an Breite und Strömungsstärke verliert. Wenn wir uns jedoch die Entwicklung anderer Theorien oder Bereiche der Wissenschaften anschauen, dann sehen wir, dass viele von ihnen keinen „Hauptstrom“ mehr besitzen, sondern sich in kleine, „mäandernde“ Seitenarme verästeln. Ich denke, dass es sich dabei um den Ausdruck einer lebendigen Entwicklung handelt. Begradigte oder gar zubetonierte Flussbetten wirken doch immer etwas tot – so wie Einheitsbauten oder am Reißbrett entworfene Stadtviertel.

Ein solcher Pluralismus hat seine Vorteile

In der Vielfalt entwickeln sich mitunter besondere, zum Teil spezialisierte Methoden und Modelle, die als Ansätze für besondere Patientengruppen oder Fragestellungen geeignet sind.

  • So entwickelte sich im psychoanalytischen „Bauwerk“ zum Beispiel im britischen Flügel (ja, auch länderspezifische Gebäudeteile lassen sich unterscheiden) mit dem sogenannten „Mentalization Based Treatment“ ein Behandlungsverfahren, das mittlerweile als eine der „State of the Art“-Behandlungen für Borderline-Störungen gilt.
  • Oder im französischen Trakt: dort gilt Jaques Lacan nicht nur seinen Anhängern als  bahnbrechender Theoretiker. Seine Arbeiten zur Subjektivität und zur Rolle der Sprache in der Entwicklung des Unbewussten haben Philosophen und Literaturwissenschaftler, Künstler und Therapeuten inspiriert.
  • Mit der Therapieforschung psychotischer und autistischer Störungen haben vor allem Psychoanalytiker, die der Schule Melanie Kleins angehören, gezeigt, dass auch schwere psychische Störungen keineswegs nur mit Psychopharmaka zu behandeln sind. Sie widerlegten damit auch Freuds Annahme, dass solche schweren psychischen Störungen psychoanalytisch nicht zu behandeln seien.

Heute lässt sich sagen, dass kaum ein analytischer Psychotherapeut noch irgendeine „reine Lehre“ vertritt. Jeder nutzt die unterschiedlichen Entwicklungen in diesen verschiedenen „Trakten“ der Psychoanalyse (oder auch anderer psychologischer Traditionen) für die individuelle, jeweils angemessene Behandlung seiner Patienten. Er findet darin auch Techniken und Methoden, mit denen er selbst gut arbeiten kann.

Entwicklung braucht Veränderung

In der breiten Öffentlichkeit ist das Bild der Psychoanalyse weiterhin untrennbar mit dem Gesicht ihres Gründers, Sigmund Freud, verbunden. Er war zu seinen Lebzeiten darum bemüht, die Zügel der Entwicklung seiner Entdeckungen in der Hand zu behalten. Zugleich erkannte er jedoch, dass diese Veränderungen seiner Theorie geradezu lebensnotwendig und unvermeidbar sein würden, sollte die Psychoanalyse nicht über kurz oder lang zu einer toten Angelegenheit erstarren.

Man kann eine solche Vielfalt als Bereicherung und Notwendigkeit erleben, oder auch als die Gefahr einer zunehmenden Beliebigkeit. Letztere hängt sicherlich davon ab, wie gut jemand in der Theorie und Praxis verschiedener Verfahren ausgebildet ist, um deren Vor- und Nachteile in der Anwendung aus eigener Erfahrung zu kennen, und gezielt die geeigneten Methoden und Techniken zu verwenden.

Heute finden wir mehr und mehr Beispiele sogenannter integrativer Theorien und Verfahren. So plausibel und modern sich „integrativ“ anhört, hängt die Qualität dieser Verbindung verschiedener theoretischer und praktischer Ansätze entscheidend davon ab, mit welchem Anspruch sie erfolgt.

Multi-Tools sind nicht immer die beste Wahl

Aus der Kochkunst kennen wir eine fast unüberschaubare Zahl unterschiedlicher Messer für verschiedene Zwecke. Die japanische Küche ist dafür das herausragendste Beispiel.

Niemand würde auf die Idee kommen, ein Stück Fleisch mit einem Gemüseschäler zu filetieren. Ein Filetier-Messer mit seiner biegsamen Klinge wiederum ist für das Schneiden eines Brotes denkbar ungeeignet.

Haben Sie schon einmal einen Spitzenkoch bei seiner Arbeit beobachtet? Ein sogenanntes Multi-Tool werden sie in seiner Küche vergeblich suchen.

Heute diktieren ökonomische Zwänge und politische Entscheidungen eine Vereinheitlichung und Normierung von Behandlungsverfahren, die auf Kosten individuell angepasster Lösungen geht.

Die damit einhergehende Begrenzung des Angebots unterschiedlicher „Messer“ mag Ihnen zwar die „Qual der Wahl“ erleichtern. Sie geht aber auch mit einer bedauernswerten Verarmung einher, und ist mit der Gefahr verbunden, dass Menschen mit besonderen Behandlungsbedürfnissen (und das sind vor allem Patienten mit schweren psychischen Störungen oder komplexen psychosozialen Problemstellungen) mit einem so vereinheitlichten Angebot nicht mehr zu helfen ist.

Dafür werden auch weiterhin besondere, gelegentlich sogar spezialisierte Angebote notwendig sein. Aber wie lässt sich entscheiden, wer für solche Behandlungen oder Betreuungen geeignet ist? In der Psychoanalyse werden oft gerade diejenigen Menschen geeignete psychotherapeutische Behandlungsangebote finden, deren Entwicklung tiefere Einsicht in komplizierte seelische Phänomene erfordert. Dabei die Grenzen der eigenen Kompetenzen zu erkennen, ist besonders wichtig.

Ein Experte kennt seine Grenzen

Eine fundierte Ausbildung vermittelt Wissen und Erfahrung. Ein wichtiges Lernziel ist dabei aber auch, zu wissen, wo die eigenen Grenzen sind.

Während meiner psychoanalytischen Ausbildung habe ich in der Vielfalt der unterschiedlichen Schulen und Behandlungstheorien einen großen Vorteil erkannt. In meiner Fachgesellschaft finde ich Vertreter verschiedener Methoden, die zu meinem professionellen Netzwerk zählen. Zugleich bin ich froh, dass es die Verhaltenstherapie gibt, und schätze meine systemisch arbeitenden Kollegen sehr. Ich weiß, wen ich ansprechen muss, und wer sich mit diesen Methoden besser auskennt als ich.

Die Entwicklung psychologischer Multi-Tools bei gleichzeitig voranschreitender Begrenzung der Wahlmöglichkeiten besorgt mich eher, als dass ich darin eine Chance erkennen kann.

Ich bevorzuge eine andere Art der Begrenzung: Wenn Sie mich um Rat fragen, ob ein psychoanalytisches Verfahren für Ihre Bedürfnisse geeignet ist, dann dürfen Sie von mir erwarten, dass ich mir anhand ihrer Fragestellung ein genaues Bild davon mache, was ich Ihnen anbieten kann, und welche Behandlungsmöglichkeiten ich sehe, welche Beratungsansätze ich für hilfreich halte. Dazu nutzt mir meine Erfahrung, und meine fundierte Ausbildung in der Theorie und Anwendung verschiedener psychoanalytischer Theorien und Verfahren.

Zugleich lasse ich selbst mich immer wieder von erfahrenen Kollegen beraten, mit denen ich in meiner Arbeitsgemeinschaft zusammenarbeite. Aber ich vermag auch einzuschätzen, wofür andere, z.B. systemische Ansätze oder verhaltenspsychologische Methoden besser geeignet sind.

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